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Die Telekommunikation in DIE ZEIT – Teil 1 khd
Stand:  12.9.2001   (30. Ed.)  –  File: Zeit/1.html




Dokumentiert sind hier in Auszügen oder als Links zum ZEIT-Archiv einige ausgewählte und in einer Zusammenstellung besonders interessante Artikel aus der Wochenzeitung DIE ZEIT. Tippfehler gehen zu meinen Lasten. Kommentare sind in [Ed: ...] angegeben.

  • Neuere ZEIT-Artikel   (2. Teil).
  • 12.01.2000: Angriff der reichen Wilden. (Fusion von AOL und Time Warner)
  • 12.01.2000: Klicken und Spicken. (Hilfen für Schüler im Internet)
  • 05.01.2000: Ins Netz gestolpert. (Pädagogen und Internet)
  • 05.01.2000: Und die Toaster toasten noch. (Y2K-Problem)
  • 14.10.1999: Weckruf aus Amerika. (Von Telekom-Fusionen)
  • 08.07.1999: Fuß in der Tür. (Wie Arcor & Otelo Kunden fangen)
  • 08.07.1999: Der Regenbogen im Kabel. (Glasfaserkabel-Technik)
  • 12.05.1999: Hallo, hier ist Bill. (TV-Kabelnetz der Telekom)



    Hallo, hier ist Bill

    Das weltgrößte Softwarehaus Microsoft hat die Deutsche Telekom und ihr TV-Kabelnetz im Visier

    Aus:
    DIE ZEIT – Nr. 20, 12. Mai 1999, Seite xx (Computer & Medien). [Original]

    Es ging Schlag auf Schlag. Kaum war die Übernahme der großen US-Kabelgesellschaft MediaOne durch den amerikanischen Telefonriesen AT&T für stattliche 57 Milliarden Dollar so gut wie perfekt, wurde Ende vergangener Woche auch schon die nächste Überraschung bekannt: Bill Gates, der Chef des weltgrößten Softwarehauses Microsoft, steigt mit 5 Milliarden Dollar wiederum bei AT&T ein. Und wie es aussieht, wird es dabei nicht bleiben.

    Die ungewöhnliche Allianz zwischen der Fernmeldegesellschaft und dem Softwarehaus ist nur der Beginn eines Kampfes um die Kontrolle der Netze von morgen – nicht nur in den Vereinigten Staaten.

    Auch die Deutsche Telekom steht auf der Liste von Microsoft. Seit geraumer Zeit verhandeln die Abgesandten von Bill Gates schon darüber, auf welchem Weg er – ähnlich wie jetzt in den USA – auch hierzulande vom zukunftsträchtigen TV-Kabelgeschäft profitieren kann.

    Selbst eine Beteiligung an Europas größtem Telefonkonzern steht dabei zur Debatte. Rund eine Milliarde Dollar soll Gates dafür reserviert haben. Da trifft es sich gut, daß die Telekom in Kürze eine kräftige Kapitalerhöhung plant.

    Doch auch eine andere Strategie ist denkbar: Ebensogut könnte Gates direkt ins deutsche TV-Kabelnetz investieren. Offiziell ist zur ersten Variante von der Telekom nur die gebetsmühlenhafte Ansage zu hören, man beteilige sich nicht an Spekulationen. Doch mit dieser Worthülse hatte Telekom-Chef Ron Sommer bis zuletzt auch die geplante Fusion mit Telecom Italia kommentiert.

    Möglich scheint zur Zeit fast alles. Denn Gates sucht fieberhaft nach einem Anschluß an die Zukunft. Und an Geld mangelt es ihm ganz und gar nicht. Der ehrgeizige Microsoft-Chef hat nur ein Ziel: Nach seinem einzigartigen Siegeszug auf dem Markt für Personalcomputer will er künftig eine ebenso wichtige Rolle im boomenden Geschäft rund ums Internet spielen. Die Kabel sind nur Mittel zum Zweck.

    Diesmal soll Windows CE, ein spezielles Betriebssystem für Kleingeräte, seine Dominanz zementieren. Gates hofft, daß seine Technik unter anderem zum zentralen Baustein in Set- Top-Boxen wird, jenen kleinen Kisten, die Fernseher erst fit fürs Internet machen. Eine Voraussetzung für den attraktiven Zugang zum Netz aber sind ebenjene TV-Kabelnetze, die immer begehrter werden. Sie machen im Vergleich zum heutigen Schneckentempo einen bedeutend schnelleren Datenverkehr möglich. Mit den sogenannten Breitbandanschlüssen sollen nicht nur die Bits und Bytes, sondern auch die Gewinne flotter fließen. Gleich mehrere Branchen setzten darauf: Telefon- und Kabelgesellschaften, Softwarehäuser, aber auch Medienkonzerne, die künftig sowohl Filme als auch Informationen jeder Art übers Netz verbreiten wollen.

    Das erklärt, warum Microsoft bereits 1997 eine Milliarde Dollar in den US-Kabelnetzbetreiber Comcast steckte, sich jetzt bei AT&T engagiert und demnächst womöglich bei der Telekom investiert. AT&T hat bereits erklärt, rund zehn Millionen Set-Top-Boxen mit Windows CE auszurüsten. Allerdings hat der Konzern offensichtlich aus jenem schlimmen Fehler gelernt, den der Computerkonzern IBM seinerzeit beging: Er machte Microsoft zum alleinigen Lieferanten von Betriebssystemen für seine PCs und legte damit den Grundstein für die Herrschaft von Bill Gates. AT&T will künftig auch die Software anderer Anbieter einsetzen.

    Daß Gates inzwischen Deutschland im Visier hat, zeugt von seinem Willen, auch diesmal wieder weltweit zu expandieren. Mit TV-Strippen, die in 21 Millionen Haushalte reichen, verfügt die Bundesrepublik über den zweitgrößten Kabelmarkt der Welt.

    Doch anders als in den Vereinigten Staaten gibt es hierzulande keine unabhängigen Kabelgesellschaften. Denn vor vielen Jahren wurde die seinerzeit noch staatliche Post dazu verdonnert, zusätzlich zu ihrem Fernmeldenetz für viele Milliarden Mark jene speziellen Leitungen zu vergraben, die bislang ausschließlich der Verteilung von Rundfunk- und Fernsehprogrammen dienen.

    Mittlerweile aber hat sich der Wind gedreht. Auch Bill Gates ist nicht entgangen, daß der deutsche Fernmelderiese massiv unter Druck geraten ist. Er soll sein TV-Kabelnetz möglichst schnell verkaufen. Nach heftiger Kritik der Wettbewerbshüter in Brüssel beschloß der Telekom-Vorstand Mitte vergangenen Jahres, das gesamte Geschäft erst einmal auszulagern, in neun Regionen aufzugliedern und dort Partner zu beteiligen.

    Die Crux allerdings: Die Telekom kann diese Infrastruktur gar nicht komplett verkaufen. Sie besteht nämlich nicht, wie das Fernmeldenetz, aus einer flächendeckenden Struktur, in der man hin-und herkommunizieren kann, sondern aus einzelnen Kabelinseln. Die Telekom führt die Regie nur über die Leitungen im öffentlichen Grund und Boden. Zusätzlich gibt es jede Menge TV-Netzbetreiber, denen es seinerzeit gestattet wurde, den privaten Grund bis in die Wohnstuben zu verkabeln. Die Telekom selbst hat nur zu rund sechs Millionen Kunden einen direkten Zugang. Trotzdem scheint das Interesse ziemlich groß zu sein.

    Ärger gab es bereits mit der Deutschen Bank. Die soll rund neun Milliarden Mark für das Netz geboten haben. Viel zuwenig, konterte Telekom-Chef Ron Sommer, der das Vorhaben des Geldinstituts mit ungewöhnlich harschen Worten zurückwies. Der Verdacht: Der Finanzriese könnte das Kabel zu einem Spottpreis kaufen, um es mit hohem Gewinn an Großinvestoren weiterzugeben. Fast hätte der Vorgang das Ende einer langjährigen Beziehung bedeutet. Doch schließlich zogen sich die Großbanker kleinlaut zurück: Man habe nur in einem komplizierten Prozeß helfen wollen.

    Bill Gates wählte einen geschickteren Weg. Am Rande einer Veranstaltung in den Vereinigten Staaten soll er bereits Bundeskanzler Gerhard Schröder auf das Thema angesprochen haben. Doch so schnell dürfte sich Ron Sommer das Heft nicht aus der Hand nehmen lassen.

    Ihm muß daran gelegen sein, möglichst viel Zeit zu gewinnen. Denn sobald das TV-Kabelnetz von potenten Investoren zu einem elektronischen Highway ausgebaut wird, der künftig auch zum Telefonieren und als Internet-Zugang genutzt werden kann, erhält er mächtig Konkurrenz, auch bei den bislang noch nahezu unangefochtenen Teilnehmeranschlüssen.

    Derweil forciert Sommer eine neue, konkurrierende Technologie: ADSL, so die spröde Formel. Sie ermöglicht den schnellen Datenverkehr auf den alten Kupferkabeln seines herkömmlichen Fernmeldenetzes. In acht deutschen Großstädten fiel bereits der Startschuß. Bis Ende des Jahres sollen 100.000 Kunden in 43 Ortsnetzen das neue Angebot nutzen können. "Damit sind wir weltweit einer der ersten Anbieter", so Telekom-Vorstand Gerd Tenzer auf der jüngsten CeBIT-Computerschau.

    Die Chancen zur Verbreitung dieser neuen Technik stehen um so besser, je länger sich der Verkaufsprozeß der alternativen TV-Kabelnetze hinzieht. Zur Zeit gibt deren regionale Aufsplittung vielen Investoren noch Rätsel auf. Sie orientiert sich an den Hoheitsgebieten der Landesmedienanstalten, die – zur Zeit noch – bei der Kabelbelegung mit Programmen das Sagen haben.

    Die entscheidende Frage aber ist: Wird die Telekom ihren Einfluß auf die künftige Nutzung des Netzes tatsächlich aufgeben und echte Konkurrenz zulassen? Für Microsoft wäre vor allem entscheidend, ob sich der Fernmelderiese oder die weiteren Netzbetreiber überhaupt für sein Windows CE erwärmen können.

    Ziemlich sicher ist derzeit nur eines: Der Kampf ums Kabel in den Vereinigten Staaten dürfte auch hierzulande die Preisphantasien von Ron Sommer beflügeln. AT&T zahlt pro Anschluß rund 3000 Dollar. Rein kalkulatorisch, so hat man bei der Telekom längst ausgerechnet, ergäbe sich daraus für ihr eigenes Netz eine stolze Summe von 30 Milliarden – Dollar, versteht sich. Das Geld könnte Sommer gut gebrauchen. Denn auch er plant weitere Übernahmen – auch von Softwarehäusern. Aber an Spekulationen beteiligt sich die Telekom ja bekanntlich nicht.

    [Microsoft's biggest cable and telecom deals]
    [Links zur Historie des Verkaufs des TV-Kabelnetzes der Deutschen Telekom]



    Der Regenbogen im Kabel

    Bald kann eine einzige Glasfaser die gesamte amerikanische Datenflut weiterleiten

    Aus:
    DIE ZEIT – Nr. 28, 8. Juli 1999, Seite xx (Computer & Medien). [Original]

    Auch viele Computerlaien kennen inzwischen das Mooresche Gesetz: Gordon Moore, Mitgründer des Chipkonzerns Intel, sagte in den Anfangszeiten der Rechnerbranche voraus, dass sich die Zahl der Transistoren von Mikroprozessoren und damit ihre Leistung alle 18 Monate verdopple. Damit behielt er bisher Recht.

    Eine beeindruckende Wachstumsrate. Doch die Telekommunikation kann derzeit mit einer noch viel größeren aufwarten: Eine neue Technik, dense wavelength division multiplexing (DWDM) genannt, wird es in den nächsten Jahren ermöglichen, das gesamte gespeicherte menschlicheWissen innerhalb von Sekunden durch eine einzige Glasfaser zu schicken.

    Solche Aussichten sorgen, wie nicht anders zu erwarten, in der Fernmeldebranche für einige Unruhe. Alteingesessene Telefonkonzerne fürchten um ihre Investitionen, weil Newcomer sie mit DWDM leicht unterbieten könnten. Und bei einigen Telekom-Gurus hat die neue Technik schon zu quasireligiösen Anwandlungen geführt: George Gilder etwa prophezeit ein Bandbreitenparadies, in dem es Übertragungskapazität im Überfluss gibt.

    Auch wenn die Erregung übertrieben scheint – DWDM ist eine verblüffende Technik. Glasfaser ist schon seit den achtziger Jahren der Stoff, aus dem neue Fernmeldenetze gestrickt werden. Das Material ist chemisch so rein, dass sich damit theoretisch ein über hundert Kilometer dickes Fenster bauen ließe, durch das Menschen noch schauen könnten. Nicht zuletzt deswegen ist es möglich, dass Laser optische Signale über Hunderte von Kilometern durch die haarfeinen Leitungen pumpen.

    Bisher teilen sich Tausende von Telefonaten die Übertragungsleistung einer Glasfaser nach dem Prinzip des time division multiplexing (TDM): Jedem Gespräch wird in regelmäßigen Abständen ein Zeitschlitz von Sekundenbruchteilen zugewiesen. Die meisten Lichtleitungen übertragen auf diese Weise 32.000 Telefonate gleichzeitig, was einer Datenmenge von 2,5 Milliarden Einsen oder Nullen (sogenannten Gigabit) pro Sekunde entspricht. Allerdings gibt es auch schon Systeme mit einer Kapazität von 512.000 Gesprächen beziehungsweise 40 Gigabit pro Sekunde.

    DWDM geht einen Schritt weiter. Die Technik spaltet die Glasfaser nicht nur zeitlich, sondern auch nach Lichtfrequenzen: Statt wie ursprünglich nur auf einer "Farbe" überträgt sie Daten gleich auf mehreren. Sie schafft also neue Spuren auf der Datenautobahn, ohne dass diese erweitert werden muss.

    Und weil die Technik immer besser wird, steigt die Zahl der Spuren ständig: Als DWDM 1995 auf den Markt kam, waren es 8. Die meisten Systeme arbeiten heute mit 16 Farben. Mittlerweile gibt es Anlagen mit 96 Kanälen. Und Forscher rechnen fest damit, dass sie in absehbarer Zeit einen Glasfaser- Regenbogen mit 1.000 und mehr Frequenzen bauen können.

    Wer all das zusammenrechnet, versteht die Begeisterung der Fernmelder: Die modernsten Systeme schaffen heute mehr als zwölf Millionen Telefongespräche gleichzeitig oder knapp 1.000 Gigabit oder ein Terabit pro Sekunde. Das reicht theoretisch, um den gesamten derzeitigen Bedarf an Bandbreite in den Vereinigten Staaten zu decken. DWDM-Experten gehen davon aus, dass einmal 25 Terabit pro Sekunde über eine einzige Glasfaser fließen können.

    Wird es jemals Leitungskapazität im Überfluss geben?

    Die zu erwartende Datensintflut ist Erfindungen zu verdanken, die an den Sprung von der Radioröhre zum Transistor erinnern: Licht wird nicht mehr außerhalb, sondern gleich innerhalb der Glasfaser manipuliert. Um etwa Filter für die verschiedenen Farben zu erzeugen, wird eine Faser ultraviolettem Licht ausgesetzt. Die Bestrahlung lässt sich so fein einstellen, dass sie eine Spiegelstruktur schafft, die nur eine bestimmte Lichtfrequenz reflektiert.

    Auch muss der Datenstrom in einer Glasfaser nicht mehr alle 80 Kilometer aufwendig in elektronische Signale umgesetzt, verstärkt und wieder in Licht verwandelt werden. Bei DWDM gibt sich die Lichtleitung sozusagen selber neuen Schwung: Ein wenige Zentimeter langes Teilstück ist mit Ionen des Metalls Erbium gespickt. Werden diese von einem Laser angeregt, verstärken sie die optischen Signale.

    Gerade diese optischen Verstärker haben es den Telekomfirmen angetan – vor allem aus ökonomischen Gründen: Zum einen, weil die Systeme wirksamer sind; ein sogenannter erbium doped fiber amplifier (EDFA) ist lediglich alle 100 Kilometer nötig. Zum anderen, weil ein EDFA alle Signale auf einmal verstärkt. So lässt sich die Übertragungskapazität von Glasfasern mit relativ geringem Aufwand erhöhen: Man speist ihnen einfach zusätzliche Lichtfrequenzen ein.

    Darüber, dass die Daten mit DWDM weit billiger fließen als mit alten Glasfasersystemen, können sich freilich gestandene Telekomkonzerne wie AT&T [Ed: oder die Deutsche Telekom] nicht so recht freuen: Die neue Technik entwertet ihre Netze, weil sich viele schon verlegte Lichtleitungen nur begrenzt aufrüsten lassen. Vor allem Newcomer profitieren von DWDM: Sie können neue Glasstrippen ziehen und ihre Dienste zu weit niedrigeren Preisen anbieten.

    Das Musterbeispiel dafür ist die amerikanische Firma Qwest Communications. Seit 1996 verlegt sie Glasfasern neben den Schienen der Eisenbahngesellschaft Southern Pacific Rail – mittlerweile fast eine Million Faserkilometer. Damit verfügt Qwest nach Schätzungen von Investmentbanken theoretisch über 20-mal mehr Übertragungskapazität als AT&T, die es gewinnbringend zum halben Preis anbieten kann.

    Aber wer soll all diese Datenröhren füllen? Bisher steigt die Nachfrage nach Bandbreite immer noch enorm: Noch vor wenigen Jahren gingen Fernmelder davon aus, dass jeder Mensch im Schnitt pro Stunde nur sechs Minuten an der Leitung hängen würde. Doch dann kamen Zweitanschlüsse, das Fax und schließlich das Internet. Jetzt schätzt der amerikanische Telekomausrüster Lucent, dass viele Menschen das Fernmeldenetz heute pro Stunde [Ed: Tag?] 180 Minuten lang nutzen. Die Menschheit wird sich schon etwas einfallen lassen, damit Übertragungskapazität ein knappes Gut bleibt. Vielleicht verschickt Hollywood einmal neue Filme sekundenschnell an Kinos. Unternehmen tauschen aufwendige, dreidimensionale Baupläne aus. Auch sogenannte Telepräsenz ist denkbar – die Übertragung von Video- Hologrammen.

    Telekom-Guru George Gilder geht trotzdem davon aus, dass es Bandbreite auf Dauer im Überfluss gibt. Sein Szenario: Die Netze der Zukunft müssen überhaupt keine Verbindungen mehr aufbauen. Man schickt einfach alle Daten überall hin. Und die Endgeräte sieben sich dann die für sie bestimmten Informationen heraus.



    Fuß in der Tür

    Wie die Telefongesellschaften o.tel.o und Mannesmann Arcor auf Kundenfang gehen

    Aus: DIE ZEIT – Nr. 28, 8. Juli 1999, Seite xx (Computer & Medien). [Original]

    Morgens um 9 Uhr schwärmen sie aus. Vor 18 Uhr sollten die Mitarbeiter nicht zurück in der Zentrale sein. Das macht einen schlechten Eindruck und bringt womöglich einen Rüffel ein. Gute Abschlüsse werden auf ganz besondere Weise belohnt: Der oder die Glückliche darf eine Glocke läuten. Die kleine bei fünf, die mittlere für acht und die große ab zehn Aufträgen. Die kleine läutet so gut wie niemand.

    Wer die große Glocke schafft, ist der Star des Tages. Alle klatschen Beifall. "Super, guter Job!", loben auch jene, die selbst nicht bimmeln durften. Der Erfolgreiche kann sicher sein, beim gemeinschaftlichen Meeting um Punkt 8 Uhr am nächsten Morgen noch einmal gefeiert zu werden. Alle wissen aber, dass vor versammelter Mannschaft auch getadelt wird.

    "Willkommen im Team": Wir befinden uns in einer der Niederlassungen der Ranger Marketing und Vertriebsgesellschaft mbH. Die Rangers sind für o.tel.o unterwegs. Das heißt, sie sind Vertriebspartner dieser noch jungen Telefonfirma, die versucht, dem Altmonopolisten Telekom massenhaft Kunden abspenstig zu machen [Ed: die nichts vom Echten Call-by-call wissen].

    Bis zum Aufstieg sind etliche Schuhsohlen platt gelaufen

    Die Ranger-Gesandten kümmern sich um Besitzer kleiner Läden: Friseure, Gemüsehändler, Boutiquen, aber auch Rechtsanwälte und Ärzte. Sie sollen davon überzeugt werden, nicht nur von Fall zu Fall im sogenannten Call-by-call- Verfahren die Firma o.tel.o zu wählen, sondern sich an diese Gesellschaft fester zu binden. Preselection wird das genannt. Es reicht die Unterschrift unter einen einfachen Auftrag – und die Telekom muss bei jedem Ferngespräch den Kunden automatisch in das Netz ihres Rivalen umlenken. o.tel.o hat auf diese Weise inzwischen schon über 500.000 Kunden gewonnen; mehr als jeder andere Rivale der Telekom.

    Das Potential ist noch immer riesig. Doch das wissen nicht nur die Rangers. Für sie gilt es, so schnell wie möglich ein Gebiet zu durchstreifen. Rund zehn Minuten sind für jedes Gespräch vorgesehen. Wer als potentieller Kunde zu viel fragt, gar debattieren will, gilt als verloren. Der nächste, bitte. Viele unterschreiben, ohne viel zu fragen. Ein Risiko gehen sie nicht ein. Alle können sich jederzeit wieder für eine andere Telefongesellschaft entscheiden.

    Der Ranger erhält für jede Unterschrift zwischen 30 und 40 Mark. Er kann sich fest anstellen lassen. Dann erhält er sogar ein Fixum, auf das die Provision aber erst einmal angerechnet wird. Manche bevorzugen hingegen, sich als Einzelkämpfer durch die Massen der Kunden zu arbeiten. Sie müssen aber für ihre soziale Absicherung selber sorgen.

    Die beiden Ranger-Chefs, Frank René Rittmann und John Keller, kamen während eines USA-Aufenthaltes auf die viel versprechende Geschäftsidee. Sie starteten 1992 in Deutschland und vertreiben Waren aller Art: Bücher, Büro- und Haushaltsartikel zählen dazu. Das summiert sich inzwischen – nach eigenen Angaben – auf stattliche 110 Millionen Mark Umsatz im Jahr.

    Als in Deutschland das Telefonmonopol der Telekom fiel, erkannte Rittmann sofort seine Chance. Er begann, sein Vertriebsnetz zu spinnen, startete in Düsseldorf, am Firmensitz. Zug um Zug kommen nun immer neue Niederlassungen in anderen Städten hinzu.

    Zwei bis drei Tage laufen die Neuen im Windschatten erfahrener Kollegen mit, die als Trainer fungieren. Dann müssen sie alleine los, augerüstet mit einem Faltprospekt – und einer Menge Auftragsformulare. Trainer wird, wer nach einer bestimmten Zeit häufig die Glocken läuten konnte, möglichst natürlich die große. Die nächste Karrierestufe: eine eigene Niederlassung. Doch bis es so weit ist, sind etliche Schuhsohlen platt gelaufen.

    Ganz egal, in welchem Status oder auf welcher Hierarchiestufe man sich befindet, das Du ist obligatorisch, und man spricht sich mit Vornamen an. Etliche finden den amerikanischen way of work ganz prima – manche schalten einfach auf Durchzug. Wer geschickt ist, kann schnell viel Geld verdienen, muss aber die Regeln akzeptieren.

    Keine Scheu haben die Niederlassungsleiter, ihre Mitarbeiter schon nach kurzer Zeit wieder in jene Gebiete zu schicken, die von den eigenen Leuten gerade erst abgegrast wurden. Ob es Fehlplanung oder ein Härtetest ist, darüber darf gerätselt werden. Und so kann es schon mal geschehen, dass eine entsetzte Geschäftsfrau stöhnt: "Ich kann den Namen o.tel.o nicht mehr hören!" Doch das scheint die Rangers nicht zu irritieren. Morgen sind sie schon wieder auf einer anderen Baustelle.

    Das Wort "Drückerkolonne" mag Rittmann ganz und gar nicht. Zwar weiß er von Wettbewerbern, die ihre eigene Verwandtschaft "auch in Turnhosen losschicken". Bei den Rangers aber legt man großen Wert auf gute Kleidung – und ein entsprechendes Image. Es ginge ganz und gar nicht darum, "nur eine schnelle Mark zu machen", beteuert er.

    Im Kampf um jeden Kunden gerät der Telekom-Rivale o.tel.o allerdings auch schon mal an, vorsichtig ausgedrückt, ziemlich exotische Verkäufer. So wird von einer Veranstaltung eines anderen Vertriebspartners übermittelt, dass sich plötzlich Nebelschwaden um die Teilnehmer hüllten. Passend zum künstlich erzeugten Dunst, lief ein Rambo-Film; ohne Ton, versteht sich. Denn die verbale Botschaft fürs harte Telefonmarketing wollte man schließlich noch selbst vermitteln.

    Weil das Geschäft als lukrativ gilt, kommen sich immer neue Vertriebsmannschaften in die Quere. Zum Beispiel in Hamburg. So muss eine Anzeige der Firma teleOrga den Rangers geradezu als Provokation erschienen sein. Die Firma lockte neue Mitarbeiter zunächst mit stattlichen 88 Mark Provision pro Anschluss.

    TeleOrga ist für Mannesmann Arcor tätig. Der Chef, Gerhard Ehrl-Santa, kommt ursprünglich aus der Immobilienbranche. Doch anstatt sich zur Ruhe zu setzen, will es der 59-Jährige noch einmal wissen: "Der Telekommunikationsmarkt ist eine neue Herausforderung." Das Schöne an der Sache sei: "Wir bringen den Kunden Geld und nehmen ihnen keines", sagt der Vertriebsprofi gut gelaunt. Allerdings musste er sein Provisionsmodell für die Mitarbeiter inzwischen variieren.

    Der teleOrga-Chef versteht sich im Vergleich zu den Rangern als die andere, deutsche Variante. Auch er beschäftigt neben- und hauptberufliche Mitarbeiter, zum Teil als Handelsvertreter. Einmal im Quartal gibt es ein "Pflichtseminar" für alle. Und im Gegensatz zu den Bedingungen bei Ranger, müssen sich die teleOrga- Kunden sechs Monate lang vertraglich an die neue Telefongesellschaft binden. "Eine seriöse Gesellschaft ist auf gute Kundenbeziehungen angewiesen", sagt Ehrl-Santa. Auf die Stornoquoten käme es an. "Drückermethoden mögen wir deshalb nicht", fügt er hinzu.

    Das Pikante an dieser Sache: Ranger und teleOrga arbeiten zwar – auf den ersten Blick – für zwei unterschiedliche Firmen. Die aber gehören längst zusammen: Arcor hat o.tel.o geschluckt. Weil es aber auch weiterhin beide Marken geben wird, hat Arcor nun ein Problem: Es gilt zu verhindern, dass sich die engagierten Vertriebspartner jetzt womöglich gegenseitig Kunden abspenstig machen. [mehr]



    Weckruf aus Amerika

    Für Telekom-Chef Ron Sommer ist die Sache klar: "Es gilt zu verhindern, dass europäische Telefonkonzerne im 21. Jahrhundert nur noch die Töchter amerikanischer Gesellschaften sind."

    Aus:
    DIE ZEIT – Nr. 42, 14. Oktober 1999, Seite xx (Computer & Medien). [Original]

    Sommer will in der Weltliga mitspielen. Deshalb sucht er dringend nach internationalen Partnern. Das Prinzip: Wer nicht expandiert, verliert. Verharren Europas Exmonopolisten in ihren regionalen Nischen, werden sie auch dort bald nicht mehr sicher sein.

    Der jüngste Weckruf kam – wieder einmal – aus den Vereinigten Staaten. Der Coup dort sprengt alle Dimensionen. Für 129 Milliarden Dollar will sich MCI WorldCom seinen Rivalen Sprint einverleiben [t-off dokumentierte]. Wer wird das nächste Opfer sein? Und wann geraten Europas Fernmeldegesellschaften ins Visier der Fusionsweltmeister?

    "In den nächsten 12 bis 18 Monaten", prophezeit Peter Golob von Merrill Lynch & Co, London, im Wall Street Journal. Und das lässt das weltweit angesehene Wirtschaftsblatt lebhaft spekulieren. Selbst die Deutsche Telekom, Europas größter Telefonkonzern, könnte demnächst auf einer Einkaufsliste landen. Ron Sommer sieht nur zwei Möglichkeiten, sich dagegen zu schützen: Die Telekom müsse sehr wertvoll sein und möglichst hohe Verbindlichkeiten aufweisen. In Deutschland haben sich inzwischen auch noch einige andere Unternehmen als Übernahmekandidaten qualifiziert. So wären beispielsweise die Telekomsparten von Mannesmann oder Viag appetitliche Happen, wenn sie, wie geplant, demnächst vom traditionellen Geschäft der beiden Konzerne abgespalten werden und an die Börse gehen.

    Schon heute sind British Telecom (BT) und der amerikanische Konzern AT&T, zweitgrößter Fernmelder der Welt, in einem Joint Venture vereint. Die Allianz hat multinational agierende Unternehmen zur Kundschaft. BT-Chef Sir Peter Bonfield will nicht ausschließen, dass daraus noch mehr werden könnte. Für sicher hält er inzwischen gar nichts mehr. Auf dem Alten Kontinentent, glaubt er, wird es in den nächsten Jahren eine Reihe von Akquisitionen und Zusammenschlüssen geben: "Das Spiel ist noch nicht gelaufen." Wohl wahr. Es hat gerade erst begonnen.

    Aus Freunden wurden Partner, demnächst sogar Rivalen

    Telekom-Chef Sommer preschte bereits vor, musste aber wieder zurück an den Start. Er wollte mit Telecom Italia gemeinsame Sache machen. Doch der Plan war ziemlich kühn – und ging schief. Statt der Deutschen kam der italienische Konzern Olivetti zum Zug. Und weil Sommer während des laufenden Spiels den Partner wechselte, ging auch noch seine Freundschaft zu Michel Bon, dem Chef von France Télécom zu Bruch. Der wähnte sich mit dem lang zuvor geschlossenen Bündnis auf der sicheren Seite. Von Sommers Flexibilität war er aber ganz und gar nicht begeistert. Zwar bindet beide immer noch eine Überkreuzbeteiligung. Doch es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die gelöst wird.

    Das Verhältnis kriselte schon länger. So konnte Sommer seinen Kollegen Bon nicht davon überzeugen, das gemeinsame Engagement bei der US-Telefongesellschaft Sprint auszubauen. Jetzt, nach der Übernahme des Konzerns durch MCI WorldCom, wollen beide ihren Anteil versilbern. Das Ende vom Anfang der Strategie, auf dem wichtigen US-Markt Fuß zu fassen.

    Außerdem steht auch noch die Zukunft eines weiteren gemeinsamen Projekts auf dem Spiel: Global One, jenes Bündnis, mit dem Deutsche und Franzosen auf dem Weltmarkt durchstarten wollten. Die Zeit solcher lockeren Allianzen scheint endgültig vorbei. Wenn der Preis stimme, so Sommer, könne sein französischer Kollege Global One komplett übernehmen.

    Aus den ehemaligen Partnern dürften demnächst sogar erbitterte Rivalen werden. Michel Bon setzt alles daran, den deutschen Mobilfunkbetreiber E-Plus zu übernehmen. Er könnte dann der Telekom-Tochter T-Mobil kräftig ins Geschäft hineinfunken. Im Nachbarland wird derweil schon heftig spekuliert, dass Sommer nun umgekehrt in Frankreich angreift.

    Das Ergebnis der vertrackten Gemengelage in Europa: Die deutschen, italienischen und französischen Fernmelder stehen erst einmal wieder alleine da. Sie sind nicht die einzigen ohne Draht zueinander: Auch die geplante Verbindung zwischen der schwedischen Telia und der norwegischen Telenor klappt nicht reibungslos. Selbst Dänen und Schweden beginnen jetzt, sich auf ihren Heimmärkten angestammtes Terrain streitig zu machen.

    Trotz aller Disharmonien in Europa gibt Torsten J. Gerpott, Professor an der Universität Duisburg und erfahrener Experte in der Telekommunikation, Entwarnung. Er glaubt nicht, dass die US-Gesellschaften auf dem Alten Kontinent schon bald eine Einkaufstour starten: "Die Amerikaner werden erst einmal damit beschäftigt sein, ihre eigenen Fusionen zu managen."

    Außerdem werden auch auf dem amerikanischen Markt die Karten neu verteilt. Gesellschaften wie AT&T oder Sprint, die bis 1996 nur Fernverkehr vermitteln durften, ist es mittlerweile erlaubt, ins langjährige Gebietsmonopol der regionalen Baby Bells einzudringen – und umgekehrt. Das kostet nicht nur Zeit, sondern verschlingt auch sehr viel Geld.

    Fast scheint es, als hätten die US-Konzerne im Kampf um die eigene Kundschaft völlig übersehen, dass Europa seine Fernmeldemärkte zum Teil radikal geöffnet hat. Selbst auf dem mittlerweile liberalsten Markt der Welt, nämlich Deutschland, sind sie kaum präsent. Nur wenige, wie MCI Worldcom, sind hierzulande angetreten, um große Firmen zu akquirieren. Doch bis heute gibt die deutsche Dependance des US-Konzerns weder Umsatz noch Investitionen bekannt.

    AT&T nutzt bislang British Telecom als Brücke nach Europa. Lutz Leinert, der Repräsentant des Konzerns in Deutschland, erklärt die internationale Strategie seines Unternehmens so: Nicht Privat-, sondern große und weltweit agierende Geschäftskunden seien auf ausländischen Märkten das Ziel. Deshalb stehe die Übernahme eines nationalen Telefonkonzerns nicht auf der Tagesordnung.

    Was würden die Kontrolleure in Europa zu einer Fusion sagen?

    Auch Holger Grawe, Analyst bei der WestLB, vermutet, dass die US-Konzerne jetzt erst einmal mit sich selbst beschäftigt sind. Sie setzten den Zwang zur Größe bedeutend schneller um als ihre europäischen Pendants: "Bei denen mischen oft noch die Regierungen mit." Und das sei nicht gerade förderlich. Außerdem, so glaubt Grawe, müsse bezweifelt werden, ob die Kartellbehörden in Europa überhaupt eine Fusion zwischen den Exmonopolisten erlaubten.

    Fast wäre es Sommer mit Telecom Italia gelungen, die Probe aufs Exempel zu machen. Doch was nicht ist, kann durchaus noch werden. Bei den Italienern rumort es inzwischen ganz gewaltig. Der neue Chef, Roberto Colaninno, plant, die gewinnträchtige Mobilfunktochter TIM abzuspalten und sie auf die hochverschuldete Tecnost zu übertragen. Über diese Holding hatte Olivetti den Kauf der fünfmal größeren Telecom abgewickelt. Das dreiste Finanzmöver bringt viele Investoren in Rage. Noch ist nicht abzusehen, wie diese Geschichte endet.

    Auch die spanische Telefonica, so hieß es inzwischen, könnte Sommer zu einer Liaison reizen. Sie ist in Lateinamerika gut vertreten. Doch deren Chef wird nachgesagt, sich eher für den US-Konzern BellSouth zu interessieren.

    Ohne amerikanischen Partner wird auch Sommer nicht vorankommen. Aber dafür braucht er viel Geld. Zwar spült ihm der Rückzug aus Sprint rund acht Milliarden Dollar in die Kasse, zum großen Teil in Form von Aktien. Und der Verkauf des TV-Kabelnetzes bringt einen weiteren Geldsegen. Doch die Summen nehmen sich, gemessen an dem, was in der US-Branche derzeit gezahlt wird, wie Peanuts aus. Für deutsche Aktionäre sind derlei Rekordbeträge jedenfalls nicht mehr darstellbar, verlautete unlängst von der Telekom.

    Um sich möglichst schnell noch mehr Kapital zu beschaffen, will Sommer mit seinen attraktiven Töchtern, T-Mobil und T-Online, demnächst an die Börse. Für Betreiber von Festnetzen dürfte es auch danach kaum reichen. Wie es heißt, haben die Deutschen nun unter anderem kleine, aber feine Mobilfunkanbieter in den USA auf ihrer Liste. Die gelten als besondes zukunftsträchtig. Und nur so könnte Sommer seinem Anspruch treu bleiben: Er will die Rolle spielen, "die Daimler bei DaimlerChrysler hat und nicht die von Opel bei General Motors."



    Und die Toaster toasten noch

    War das alles? Ein paar EKG-Geräte in Schweden, 20 000 Telefone in Nigeria und jede Menge verhunzter Datumsangaben im World Wide Web?

    Aus:
    DIE ZEIT – Nr. 2, 5. Januar 2000, Seite xx (Computer & Medien). [Original]

    Das viel beschworene Jahr-2000-Problem schrumpfte von bedrohlichen Weltkriegsszenarien auf Eilmeldungen über Websites, die das Jahr 100 meldeten. So was passiert, wenn man eine zweistellige Jahreszahl beim Programmieren benutzt. Der Datumswechsel verlief glimpflich, und vieles spricht dafür, dass sich auch in den kommenden Tagen, Wochen und Schaltjahrausnahmen die Systemausfälle in Grenzen halten werden. Haben nun die Experten versagt, oder haben sie Recht behalten, wenn sie wie der Hamburger Informatiker Klaus Brunnstein den Datumsfehleralarm als "ein rechtzeitiges, aber zu gering eingeschätztes Warnzeichen" klassifizierten?

    Auffällig ist in den Reaktionen zum Datumswechsel, wie wenig von Erleichterung berichtet wird. In den technischen Nachrichten überwiegen Kommentare von Wartungsspezialisten, wie hart sie in der Nacht gegen die Langeweile kämpfen mussten. In den allgemeineren News taucht die Frage auf, ob denn die Milliarden, die da in die IT-Technik gesteckt wurden, nicht zum Fenster hinausgeworfen wurden. Das böse Wort vom Abzocken der EDV-Branche macht die Runde. Im Internet hat sich bereits eine Bürgerinitiative zu Wort gemeldet, die alle Y2K-Experten wegen Betrugs verklagen möchte. Den Vorwurf der Bereicherung nährt auch die Nachricht, dass Peter de Jaeger, einer der ersten Warner, gleich nach dem Datumswechsel seine Web-Adresse Year2000.com für zehn Millionen Dollar an einen unbekannten Bieter verhökert hat.

    Zu den Ausnahmen vom allgemeinen Gemecker gehört die Organisation Y2K-Survive, die zuvor massenhaft Überlebenstipps im Stil von Pfandfinderhandbüchern verbreitet hatte. "Die Y2K-Bedrohung scheint überschätzt worden zu sein. Zeit, sich dem wirklichen Leben zuzuwenden", lautet lapidar ihre Presseerklärung. Erwähnenswert ist noch "The David", ein religiöser Einzelkämpfer, der in den Wirren des Datumswechsels als neuer Messias die Menschen zur Einkehr bringen wollte. "Um ein Uhr ging ich zur Toilette. Selbst die funktionierte. Während meine Pisse wegrauschte, fühlte ich, wie meine Hoffnungen auf Erleuchtung mitrauschten", heißt es in der letzten E-Mail an seine Anhänger.

    Das Jahr-2000-Problem war niemals nur eine Bedrohung durch unzureichend programmierte Computer. Es war auch das Versprechen, einen sonst hanebüchen langweiligen Datumswechsel mit Abenteuer zu füllen. Lustvoll warnte RTL vor der Gefahr explodierender Toaster, und auch die Anweisungen der Überlebenshelfer versprachen aufregende Zeiten. Nun wird es weitergehen wie bisher. Auf Windows 2000 kann Windows 01 folgen. Derweil knabbert eine Berufsgruppe an den Fingernnägeln. Die Konjunktur der Jahr-2000-Problemlöser endet abrupt. Der Umsatz der amerikanischen Computer-Consulting Firma Data Dimensions zum Beispiel war erst durch das drohende 2000-Desaster von einer Million auf 115 Millionen Dollar hochgeschnellt. Jetzt versucht die Firma ihr Heil im E-Commerce. Die Börse überzeugte das nicht: Der Aktienkurs von Data Dimensions sank von 40 auf unter 3 Dollar.



    Ins Netz gestolpert

    Das Internet hält Einzug in Deutschlands Schulen. Doch nur wenige Pädagogen sind darauf vorbereitet

    Aus:
    DIE ZEIT – Nr. 2, 5. Januar 2000, Seite xx (Computer & Medien). [Original]

    Ohne die Fortbildung hätte sich Ute Strubel nicht auf so ein Abenteuer eingelassen: mit der achten Klasse auf die Datenautobahn, da kann eine ganze Menge schief gehen – und die Lehrerin kommt ins Schwitzen. Aber in einer internen Schulung am Hamburger Gymnasium Kaiser-Friedrich-Ufer – kurz: Kaifu – hat sie ein Kollege an ein paar Samstagen in die Geheimnisse des Internet eingeweiht. Auch wenn der erste Probelauf ein Flop war, das System abstürzte, die Unterrichtsstunde verstrich: Heute wagt sich die 44-jährige Biolehrerin mit ihrer Achten ins Netz der Netze.

    Der Suchbegriff lautet "Ökosysteme". Im Computerraum sitzen die Jugendlichen allein oder zu zweit an dem guten Dutzend neuer iMac-Computer: Ein Schülerduo schaut fasziniert einem
    Die Lehrer werden durch die neuen Medien nicht überflüssig. Denn die Schüler wollen reden über das, was sie im Internet entdecken. Sie suchen Orientierung und Wertmaßstäbe.
    Hai ins Maul. Ein Mädchen wandert durch den virtuellen Bayerischen Wald. "Geile Seite", lobt einer, während aus der anderen Ecke ein Notruf kommt: "Mein Computer reagiert nicht mehr." Doch größere Katastrophen bleiben aus. Am Ende ist die Lehrerin zufrieden: "Toll, dass die Schüler die Bandbreite des Themas spüren konnten."

    Deutschlands Lehrer stolpern ins Netz. Nach wie vor sei ihre Ausbildung in Medienpädagogik an den Hochschulen und im Referendariat eine "Katastrophe", sagt Stefan Aufenhanger, Pädagogikprofessor an der Universität Hamburg. Die Fortbildungsangebote für Lehrer sind mittlerweile zwar professioneller als früher, aber je nach Bundesland verschieden. Auf jeden Fall deckten sie nicht den Bedarf ab, befindet Wilfried Hendricks, Professor für Didaktik in Berlin. Am besten funktioniere noch die schulinterne Fortbildung durch Kollegen.

    Der Grund für die Misere: Politiker und Sponsoren haben bislang vor allem in die Technik investiert, weniger in Menschen. In Baden-Württemberg und Hamburg hat demnächst selbst die kleinste Grundschule einen Zugang zum Cyberspace. In Nordrhein-Westfalen soll es 2004 so weit sein. Doch die Lehrer haben kaum Ahnung von Bookmarks und Browsern. Nur jeder 5. hat einer Studie der Bertelsmann Stiftung zufolge schon einmal im Internet gesurft. Und nur jeder 14. begleitet seine Schüler regelmäßig ins Netz. "Die Lehrer sind die Schwachstelle", resümiert Walter Thomann vom Institut für Schulforschung und Lehrerbildung der Universität Wuppertal.

    Um Abhilfe zu schaffen, haben die Politiker einiges in Sachen Lehrerfortbildung auf den Weg gebracht: Fast jedes Bundesland betreibt einen Bildungsserver, eine Art Schwarzes Brett mit Informationen über Kurse und Projekte. In Nordrhein-Westfalen schwärmten 170 Fortbilder aus, um 20.000 Lehrer fürs Computerzeitalter vorzubereiten; alle 160.000 Lehrer des Landes sollen bis 2004 einen "Internet- Führerschein" machen. In Baden-Württemberg wurden 3500 Pädagogen als Multiplikatoren zu Netzwerkexperten fortgebildet – für jede Schule mindestens einer. Auch Firmen und Stiftungen haben sich im Kampf gegen das EDV- Analphabetentum Verdienste erworben: So rief der Verein "Schulen ans Netz", ein gemeinsames Projekt von Bund und Telekom, die Aktion "Teach your teachers" ins Leben: An 200 Schulen haben Pennäler ihren Paukern Nachhilfestunden in Word, Excel und Corel-Draw erteilt.

    Doch sorgt kollektives Nachsitzen für besseren Unterricht? Nach Ansicht von Gerhard Tulodziecki, Pädagogikprofessor in Paderborn, litten die meisten Fortbildungen an der Fokussierung auf die Technik. Sicher sei es nötig, dass der Lehrer Recherchekniffe fürs Internet kennt. Doch spannend werde es erst, wenn es um die pädagogische Umsetzung und die alten Fragen geht: Wie soll sich die Schule entwickeln? Wie soll Lernen und Lehren aussehen? Wie viel Freiheit brauchen Schüler? Wie lässt sich Teamarbeit erproben? Soll ich dafür eine Homepage anfertigen oder ein E-Mail-Projekt mit einer US-Schule initiieren? Dummerweise bleibt nach Tulodzieckis Ansicht bei den meisten Kursen jedoch die Auseinandersetzung mit medienpädagogischen Inhalten auf der Strecke. Die Lehrer wissen nachher, welche Tasten sie drücken müssen, aber nicht, wozu.

    Große Breitenwirkung haben alle Qualifizierungsoffensiven noch nicht entfaltet. Detlev Schnoor, Leiter des Referats Medien und Bildung der Bertelsmann Stiftung, schätzt, dass sich an fast jeder Schule nur eine Kerngruppe von sieben bis zehn Lehrern in der Medienarbeit engagiert: "Das Interesse der anderen ist jedoch geweckt." Das bedeutet nicht viel: Wer einen Internet-Kurs besucht, weiß noch lange nicht, wie er neue Medien in einer Stunde über Karl den Großen einsetzen soll. Oft nutzen etwa Grundschullehrer die Computer nach altem Schema: Die Schüler machen ein paar Rechtschreibübungen am Bildschirm – ein paar Blatt Papier wären billiger. Das eigentliche Potenzial der neuen Medien – ihre Einsatzmöglichkeit im Projektunterricht, die Chance, mit ihrer Hilfe Kommunikationsfähigkeit, Kreativität und eigenständiges Lernen zu trainieren –, all dies bleibt ungenutzt.

    Die Pädagogen werden nach Ansicht des Wuppertaler Schulforschers Walter Thomann durch die neuen Medien nicht überflüssig. Denn die Cyber-Kids wollen reden über das, was sie im Netz entdecken. Sie suchen Orientierung, Wertmaßstäbe, sagt Thomann. "Kommunikation ist viel wichtiger als Belehrung." In Zukunft werde der Lehrer daher als Wissensmoderator fungieren, weniger als Wissensvermittler. Viele aus der ehemaligen Zunft der Schulmeister haben damit noch Probleme. "Ich bin's gewöhnt, jeden Arbeitsschritt zu kontrollieren", sagt der 54-jährige Kaifu-Lehrer Hannes Beecken, der seit Jahren neue Medien einsetzt. "Plötzlich soll ich zulassen, dass jemand seine Zeit verplempert, muss mich zurücknehmen. Und dann soll ich aushalten, dass ich immer der Idiot bin, wenn's nicht klappt."

    Was muss geschehen, damit die Arbeit mit Computern genauso zum Schulalltag gehört wie heute das Klingeln der Pausenglocke? Erziehungswissenschaftler Tulodziecki plädiert für Verträge zwischen Pädagogen, Rektoren und Schulamtsvertretern aus einer Region. Die Lehrer würden sich verpflichten, gewisse Themen anzupacken, die Aufsichtsbehörde würde passende Fortbildungen organisieren – der Dialog käme in Gang.

    Am meisten ließe sich bei der Lehrerausbildung erreichen. Demnächst gehen Zehntausende Lehrer in Pension – in Medienpädagogik besser ausgebildete Junglehrer könnten also ihr Wissen bald umsetzen. Doch dafür muss sich an den Hochschulen etwas bewegen. Im Wintersemester 1994/95 (neuere Zahlen gibt es nicht) hatten von den 4800 erziehungswissenschaftlichen Veranstaltungen an deutschen Unis nur vier Prozent die Medien zum Thema, davon wiederum nur ein Drittel die neuen Medien. Wegweisend ist eine Initiative in Paderborn: Hier haben erstmals alle an der Lehrerausbildung Beteiligten einen Lehrplan ausgetüftelt, der Medienpädagogik für jeden Studenten zur Pflicht macht – ein Novum.

    Zugleich rufen die Experten nach den Politikern. Tulodziecki fordert einen "Innovationsfonds": Wer systematisch Medienpädagogik betreibt, soll Stellen kriegen. Auch Didaktikprofessor Hendricks setzt auf Druck. Bestimmte Fördermittel sollten nur die Universitäten bekommen, die angehende Lehrer am PC ausbilden.



    Klicken und Spicken

    Das Internet macht Abschreiben leicht. Aber die Lehrer haben aufgehört, über die Datenbanken mit Hausaufgaben zu schimpfen. Sie geben jetzt Nachhilfe online.

    Aus:
    DIE ZEIT – Nr. 3, 12. Januar 2000, Seite xx (Computer & Medien). [Original]

    Damit eines von Anfang an klar ist: Sein kompletter Name darf auf keinen Fall in der Zeitung stehen. Matthias will nicht mal verraten, wie seine Schule heißt – schließlich könnten ihm sonst die Lehrer auf die Spur kommen. Und das würde Ärger geben. Denn Matthias' Referate entstehen auf äußerst ökonomische Weise: Er kopiert sie sich aus dem Internet. Dort gibt es Sammlungen mit Tausenden von Hausaufgaben und Referaten – Arbeiten von Schülern, die sie im Web der Nachwelt zur Verfügung stellen. "Man findet zwar nie ganz genau das, was man braucht", erzählt der 17-Jährige aus Ostfriesland, aber aus zwei oder drei Vorlagen könne er meist etwas Passendes basteln.

    Das deutschsprachige World Wide Web (WWW) hat sich in ein Dorado für Schüler verwandelt – und das nicht nur für die Faulen, die sich auf den Schummelseiten umtun. Das Internet bietet für Schüler auch Lernprogramme, Adressen von Nachhilfelehrern, Nachhilfe per E-Mail und mittlerweile sogar einen Online-Hausaufgabencheck. Die meisten Angebote stammen von Schülern und Studenten und sind gratis. Zunehmend drängen aber auch Schulbuchverlage und kommerzielle Nachhilfeanbieter ins Netz.

    Angefangen hat alles vor drei Jahren, als die ersten Hausaufgabendatenbanken entstanden. Heute gibt es mehr als ein Dutzend, die um die Gunst der Online-Schummler buhlen. Die größten Wissensspeicher im Netz sind www.young.de und www.referate.heim.at, in beiden lagern jeweils rund 4500 verschiedene Texte – von der Approximation von Funktionen mithilfe der Taylorpolynomen über die Höchsten Tugenden der Frauen im antiken Rom bis hin zur Zahl Pi auf 50.000 Stellen genau. Der Bedarf scheint enorm zu sein: Allein bei www.young.de schauen nach Angaben des Betreibers Bastian Wilhelms im Monat rund 200.000 Besucher vorbei, 1,3 Millionen Hausaufgabenseiten werden im gleichen Zeitraum abgerufen. Und das Angebot verfeinert sich weiter.

    Neben Seiten, die Material für alle Fächer bereithalten, entstehen Spezialangebote, zum Beispiel für Chemie und Biologie. Metasuchmaschinen wie www.kosh.de oder www.schuelerweb.de machen es möglich, in mehreren Hausaufgabensammlungen gleichzeitig zu kramen. Zu den Standardthemen aus Fächern wie Deutsch, Englisch und Latein gibt es in den größeren Datenbanken gleich mehrere Treffer. So findet man allein bei www.referate.heim.at 14 verschiedene Arbeiten zu Goethes Faust und zehn zu Max Frischs Homo Faber.

    "Bei spezielleren Sachen ist die Suche jedoch meistens ziemlich aussichtslos", hat Philipp Nyssen festgestellt, "man findet nichts." Selbst eine Inhaltsangabe von Mark Twains Huckleberry Finn suchte der 17-jährige Gymnasiast aus Stade vor kurzem vergeblich im Netz. "Ich bin nicht drum rumgekommen, das Buch selbst zu lesen."

    Vielleicht war das aber auch besser so. Denn die Arbeiten im Internet kommen nicht unbedingt von den Klassenbesten, und die Qualität überprüft niemand. Der Erlanger Philologe Ulrich Schmitzer, Privatdozent an der dortigen Universität, hat mehrere Angebote für das Fach Latein unter die Lupe genommen und stieß dabei auf "geradezu abenteuerliche Fehlinformationen, Fehlübersetzungen und kaum verdautes Halbwissen". Sein Fazit: "Viele der angeblichen Selbsthilfeeinrichtungen sind eine Gefahr für die Schüler." Er warnt deshalb davor, die Angebote allzu vertrauensvoll zu nutzen. Keinesfalls sollten Schüler Referate oder Hausarbeiten eins zu eins übernehmen. Andererseits will der Philologe die Seiten aber nicht in Bausch und Bogen verdammen: "Sie sind gut, um sich ein Bild zu machen, wie andere an das Thema herangegangen sind."

    Bei den Lehrern ist nach der ersten Aufregung über die Schummelecken Gelassenheit eingekehrt. Vor einem Jahr schrieben sie noch böse Briefe an die Betreiber von Hausaufgabenseiten. "Heute melden sie sich und sagen, welche Arbeiten wir aus dem Netz nehmen sollen, weil sie Mist sind", erzählt Bastian Wilhelms von www.young.de. "Abgeschrieben wurde schon immer", sagt der Gütersloher Deutsch- und Geschichtslehrer Michael Kerber, "jetzt ist nur eine neue Quelle hinzugekommen."

    Wer Fragen hat, zahlt fünf Mark für die Antwort

    Das Internet ist inzwischen weit mehr als ein gigantischer Spickzettel: Verzweifelte Schüler haben per E-Mail einen direkten Draht zu klugen Köpfen. Ehrenamtliche Nachhilfe von Abiturienten gibt es für Mathematik (www.zahlreich.de), für Biologie (www.biologie4u.de) und Englisch (www.english4u.de).

    "Die Hemmschwelle, eine vermeintlich dumme Frage zu stellen, ist im Internet viel geringer", sagt der 34-jährige Marco Gauer, Organisator dieser drei Nachhilfeangebote, die täglich 1500 bis 4000 Ratsuchende nutzen. Er sieht aber auch Grenzen: "Für Schüler mit gravierenden Schwächen ist das natürlich kein Ersatz für traditionelle Nachhilfe."

    Gauers Online-Nachhilfe kostet keinen Pfennig. Für den Diplommathematiker, der sein Geld in der Computerbranche verdient, sind die Seiten "nicht mehr als ein Hobby". Andere Nachhilfelehrer versuchen, mit dem Internet Geld zu verdienen. Bei der Pädagogin Judith Siegfried (home.tonline.de/ home/judith.siegfried) kostet jede Anfrage zu den Fächern Deutsch und Englisch fünf Mark. Und der Telemedia-Mathematik- und Physik- Aufgabenservice verlangt pro Bearbeitungsminute 44 Pfennig (www.mathematik-nachhilfe.de).

    Pionier unter den kommerziellen Nachhilfeanbietern ist der Schulbuchverlag Cornelsen: Seit rund zwei Jahren bietet er Online-Nachhilfe an, Mitte Oktober 1999 eröffnete der Verlag mit der Website www.learnetix.de eine eigene "Lern-Community für Schüler im Internet". Ausgebildete Lehrer helfen dort unter den Pseudonymen Dr. Mathe, Dora Deutsch und Super James bei Problemen in Mathematik, Deutsch und Englisch weiter und korrigieren sogar Hausaufgaben. Wenn man bis 17 Uhr seine E-Mail abschickt, bekommt man die Antwort noch am gleichen Tag. Auch dieser Service hat seinen Preis: Eine einzelne Antwort kostet fünf Mark. Wer die Nachhilfe öfter nutzen will, kann sie ein halbes Jahr für 58 Mark abonnieren.

    Und es sind keineswegs nur Schüler, die an binomischen Formeln und Kurvendiskussionen verzweifeln und deshalb dankbar sind für Angebote wie jenes des Cornelsen-Verlags. Auch Erwachsene, die ihren Kindern etwas erklären oder selbst ihr Abitur machen wollen, holen sich mitunter Rat, erzählt Cornelsen-Tutor Wolfgang Tews. Er hat beobachtet, dass die meisten Schüler nur in Ausnahmefällen mailen, "wenn es wirklich brennt". Einige können aber gar nicht genug kriegen. So wie Kathrin: Im "Gästebuch" auf der Cornelsen- Website wünscht sie sich noch jede Menge zusätzlicher Hilfen. Ganz oben auf ihrem Wunschzettel: "Latein, Chemie und Physik."



    Angriff der reichen Wilden

    Der Newcomer AOL schluckt den größten Medienkonzern der Welt

    Aus:
    DIE ZEIT – Nr. 3, 12. Januar 2000, Seite xx (Computer & Medien). [Original]

    Man kann die Geschichte der geplanten Fusion zwischen America Online (AOL) und Time Warner auf viele Arten erzählen. Etwa: Der größte Online-Dienst auf dem Globus verschafft sich Zugang zum Wohnzimmer. Oder: Der weltgrößte Medienmulti hängt die Konkurrenz ab. Auch das stimmt: Dieser Deal dürfte der Startschuss sein zu einer Fusionsrunde zwischen Konzernen der alten und neuen Medienbranchen. Oder so: CNN-Gründer Ted Turner, größter Time-Warner-Aktionär, kann seine Scheidung von Jane Fonda jetzt locker bezahlen.

    Aber die spannendste Geschichte geht anders. Auch wenn die beiden Firmen ihre Fusion als Ehe unter Gleichen verkaufen: In Wahrheit übernimmt hier erstmals ein – mit extrem hohen Börsenwerten aufgepumptes – Internet- Unternehmen einen Giganten der alten Medienwirtschaft. Wie alle Protagonisten des Internet lebt AOL vom Prinzip Hoffnung – von der Erwartung auf das große Geschäft in der digitalen Welt. An vertrauten Maßstäben gemessen, ist der schnell wachsende Online-Dienst nämlich vergleichsweise noch eine Klitsche. Weniger als zehn Milliarden Mark Umsatz und weniger als eine Milliarde Mark Gewinn schaffte er im vergangenen Geschäftsjahr. Time Warner kommt auf mehr als das Fünffache.

    Trotzdem war AOL vor Bekanntgabe der Fusion am vergangenen Montag den Börsianern grob gerechnet 300 Milliarden Mark wert, Time Warner 100 Milliarden weniger. Der Grund: Das Internet-Geschäft wächst schneller als das der klassischen Medien und weckt größere Fantasien. So konnte AOL den neuen Partner mit günstigen Konditionen zum Aktientausch überreden und trotzdem die Oberhand behalten. 55 Prozent von AOL/Time Warner gehen an die Aktionäre des Online-Dienstes.

    Bisher kauften klassische Konzerne sich Internet-Firmen – Walt Disney etwa Infoseek, mit dessen Hilfe sich Nutzer im World Wide Web zurechtfinden können. Jetzt neigt sich die Waage zur anderen Seite. Es entsteht eines der am höchsten bewerteten Unternehmen überhaupt – teurer als der Autoriese Ford, Inbegriff der industriellen Revolution.

    Ein halbes Jahr zuvor war an den jetzigen Deal gar nicht zu denken. Damals war AOL nur halb so viel wert wie Anfang 2000. So schnell kann es gehen.

    AOL — von der Lachnummer zum Microsoft-Konkurrenten

    Neue Zeiten, und die Klischees stimmen auch. AOL-Chef Steve Case, ein bubenhaft aussehender Mann Anfang 40, soll die Strategien entwerfen, der 60-jährige Gerald Levin, gezeichnet vom Aufbau des Medienkonzerns Time Warner, das Management führen. "Gerry" sei klar, dass nun in Internet-Zeit operiert werde, hieß es beim gemeinsamen Auftritt. Es gelten die Regeln der Digitalwirtschaft.

    Und da gibt es keine sauberen Trennlinien mehr zwischen Film und Ton und Schrift. AOL will künftig alle Medieninhalte liefern. Die derzeit gut 20 Millionen Abonnenten des Online-Dienstes sollen nur der Anfang sein auf dem Weg zu Cases Ziel: das Microsoft des Internet zu werden. Das wertvollste Unternehmen der Welt beherrscht das Geschäft mit Computersoftware. Aber bei der Erschließung des Internet führt AOL. Amerikaner verbringen zehnmal so viel Zeit im Netz mit AOL wie mit dem zweitgrößten Online-Anbieter: eben Bill Gates' Microsoft.

    Schnelle Internet-Zeit: Noch vor drei Jahren wäre AOL beinahe zusammengebrochen, und Steve Case, ein ehemaliger Pizza-Hut-Angestellter aus Honolulu, der in seinem Leben schon mit diversen Firmengründungen gescheitert war, wurde in der Branche einmal mehr verlacht. Seitdem ist die Zahl der Abonnenten immer steiler gestiegen – vor allem dank einer konsequent verfolgten Philosophie: Einfache Nutzung ist wichtiger als neueste Technik. Echte Netzfreaks mögen AOL nicht, wohl aber junge Eltern, die sich erstmals ins Internet begeben wollen. Und davon gibt es mehr.

    Case erwarb nach dem einst schärfsten Konkurrenten Compuserve den beliebten Internet-Treffpunkt ICQ, dann Netscape, den Pionier für Netzsoftware, der ein wichtiges Portal zum Internet besitzt. Schließlich kaufte sich AOL vergangenen Sommer bei der Satelliten-TV-Firma Hughes Electronics ein. Doch der Königsweg zum Kunden blieb versperrt: Breitbandkabelnetze, durch die sich auch Fernseh- und Musikprogramme problemlos abrufen lassen. Im Guten wie im Bösen versuchte AOL dem führenden Netzbetreiber AT&T die Erlaubnis abzuringen, sich über TV-Netze direkt an die Haushalte wenden zu dürfen – ohne Erfolg.

    Schnee von gestern: Time Warner betreibt das zweitgrößte Kabelfernsehnetz der USA mit 13 Millionen Kunden, und mit dem Kabelsender HBO erreicht der Konzern 35 Millionen Haushalte. Auch sonst passen Partner aus der alten und der neuen Wirtschaftswelt glänzend zusammen. Time Warner liefert die Inhalte: Zeitschriften, Bücher, Musiktitel, Filme und TV-Programme der Warner-Studios, dazu den Nachrichtensender CNN. AOL kann diese kostbare Ware über sein Kommunikationsnetz vertreiben. Ob die Menschen elektronisch einkaufen oder bewegte Bilder abrufen, ob sie per Computer, Handy oder am Bildschirm auf der Kühlschranktür auf Datenjagd gehen – sie sollen es bei AOL/Time Warner tun. "AOL überall" heißt die Vision des Chefs.

    „Content is king“ lautet ein alter Branchenspruch

    Es geht um die Inhalte. "In Zukunft wird das wirklich so sein", sagt Andreas Schmidt, Chef von AOL Europa, den sich die Amerikaner mit Bertelsmann teilen. Um weiter zu expandieren, brauchten sich Medienproduzenten und Internet- Firmen gegenseitig. AOL Europa, in Deutschland weit abgeschlagen hinter dem Online-Dienst der Telekom, will künftig auf allen Ebenen Geld verdienen: mit den Abonnements und Werbung, mit Netzangeboten für Computernutzer wie mit der Integration des Fernsehens in die digitale Welt.

    Die US-Wettbewerbshüter werden wohl nichts gegen die teuerste Fusion aller Zeiten haben, die Konkurrenten der beiden Partner schon eher, und die EU-Kommission will penibel prüfen. "Ich müsste mich sehr täuschen, wenn da nicht noch andere große Deals nachkommen", sagt Paul Noglows, der für die Investmentbank Hambrecht & Quist in San Francisco das Mediengeschäft untersucht. Kauft Disney, größter Wettbewerber von Time Warner, einen Kabelnetzbetreiber? Braucht der Internet-Dienst Yahoo!, Erzrivale von AOL, die Verbindung zu einem Medienhaus? Wie füllt AT&T seine Netze? Wall Street spekuliert. Nur nicht über Microsoft. Die momentane Euphorie geht an Bill Gates vorbei. Doch auch er muss sich fragen, wie er seinen Online-Dienst künftig an die Kunden bringt. Über 20 Millionen Dollar Rücklagen sollten dem Krösus reichen, um sich Infrastruktur zu sichern.

    Es wächst zusammen, was für Digitalexperten längst zusammengehört. Trotzdem war die Branche überrascht – gerade in Europa, wo man auf Bezahlfernsehen und Telefondienste konzentriert ist. Einer wusste allerdings, was auf ihn zukam: Thomas Middelhoff. Der Bertelsmann-Chef sitzt im Aufsichtsrat von AOL, und sein Freund Steve Case hatte ihn vergangenes Jahr als ersten potenziellen Partner gefragt: Stand der deutsche Medienkonzern zum Verkauf? Doch das war mit der Tradition des Gütersloher Unternehmens nicht zu vereinbaren. Steve Case musste sich anderweitig orientieren.

    Hat Bertelsmann nun das Nachsehen? Thomas Middelhoff antwortet deutlich: "Vor dem neu entstehenden Unternehmen ist uns nicht bange. Keiner ist besser im Internet aufgestellt als wir – auch nicht Time Warner." Der Topmanager, der frühzeitig in AOL investierte und dabei für seine Firma Milliarden verdiente, setzt längst auf das digitale Geschäft. Den Zwischenschritt des Abofernsehens lässt Bertelsmann aus. Dafür entwickelt der Konzern Dienstleistungen für das Internet. Ein Ausweis des Erfolgs: Lycos Bertelsmann. Das Unternehmen mit amerikanischem Partner bietet Suchdienste und Treffpunkte im Internet an und plant den Börsengang.

    Bertelsmann wird ein Sonderfall bleiben. Alle anderen Medienkonzerne sind an der Börse. Anleger werden ihren Marktwert genau vergleichen mit dem hoffnungsvoller Netzfirmen wie Yahoo! oder des Online- Buchhändlers Amazon.com. Wo sich alte und neue Wirtschaft treffen, lautet jetzt die Frage aller Fragen: Wer kann sich wen leisten? Und die Antwort ändert sich täglich.




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